Motivation: Wo das Eis zu dünn ist

Sebastian Schnülle im Gespräch mit Jürgen Bröker von ZEIT ONLINE 

Iditarod: Eine Teilnehmerin des schwersten Hundeschlittenrennens der Welt in Alaska.

Das Iditarod ist das härteste Hundeschlittenrennen der Welt, 1.000 Meilen durch Alaska. Wie überleben Fahrer und Hunde bei -50 Grad? Ein deutscher Teilnehmer weiß es.

ZEIT ONLINE: Herr Schnülle, üblicherweise führen Hundebesitzer ihr Tier im Park spazieren. Sie fahren mit ihren Huskys 1.000 Meilen bei einem Hundeschlittenrennen durch das kalte Alaska. Haben Sie dadurch auch ein besonderes Verhältnis zu ihren Tieren?

Sebastian Schnülle: Unsere Beziehung ist sehr, sehr tiefgehend. Wir verbringen gute und harte Zeiten miteinander. Es schweißt zusammen, wenn man mit seinem Team durch richtig fiese Stürme fährt. Für mich sind meine Hunde vor allem meine Partner. Ich weiß, dass ich ohne die Hunde nichts hinbekommen kann. Die Huskys sind einfach außergewöhnlich. Wenn sie sich weigern, über einen zugefrorenen Fluss zu laufen, sollte man das tunlichst auch lassen. Die Hunde wissen meist sehr gut, wo das Eis zu dünn ist.

ZEIT ONLINE: In Alaska, wo das Iditarod stattfindet, fallen die Temperaturen auf bis zu minus 50 Grad. Weshalb finden sich für das Rennen jedes Jahr genügend Verrückte?

Sebastian Schnülle: Es ist das faszinierende Zusammenspiel von Mensch und Tier unter extremen Bedingungen. Wir Musher, so nennt man uns Hundeschlittenführer, und die Hunde müssen uns aufeinander verlassen können. Und das über einen langen Zeitraum.

Sebastian Schnülle ist 46 Jahre alt. In Wuppertal geboren, wuchs er in Ostfriesland auf. Als er 1995 eine Hundeschlittentour in Ontario machte, war es um ihn geschehen. Er verfiel diesem Sport, wanderte nach Kanada aus und gründete ein Tourismus-Unternehmen, das Hundeschlittentouren anbot. Zwischenzeitlich lebte Schnülle mit mehr als 100 Hunden zusammen.

ZEIT ONLINE: Am Samstag geht's wieder los. Eigentlich wollten Sie erneut an den Start gehen. Warum doch nicht?

Schnülle: Im Dezember ist mir beim Training ein Auto in mein Gespann gefahren. Dabei sind zwei meiner Hunde tödlich verletzt worden, einige andere wurden so schwer getroffen, dass sie ein solches Rennen wie das Iditarod nicht mehr durchstehen könnten. Ich hatte nicht mehr genügend gesunde Hunde, um am Rennen teilzunehmen.

ZEIT ONLINE: Hätten Sie nicht andere Hunde ins Gespann integrieren können?

Schnülle: Das wäre schon gegangen. Und einige befreundete Musher haben mir auch Hunde angeboten. Aber das wäre nicht das Gleiche gewesen. Ich habe meine Hunde selbst aufgezogen, sie auf das Rennen vorbereitet. Mit ihnen wollte ich das Iditarod noch einmal erleben.

ZEIT ONLINE: Wollen Sie etwas zum Abschluss bringen?

Schnülle: Ja, das war der Plan. 2011 hatte ich mich eigentlich aus der aktiven Rennszene verabschiedet. Ich hatte gerade einige sehr erfolgreiche Jahre hinter mir, habe das 1.000 Meilen Yukon Quest Rennen in 2009 gewonnen und war Zweiter beim Iditarod. Bevor ich ganz aufhöre, wollte ich aber noch einmal beim Iditarod starten. Es wäre mir ein Spaß gewesen.

ZEIT ONLINE: Spaß? Witzig, dass Sie das bei den Rennbedingungen sagen. 

Schnülle: Klar, das Iditarod kann auch zur Hölle werden. Kein normaler Mensch geht bei minus 40 oder 50 Grad vor die Tür. Dazu kommt der Wind, der mit mehr als 50 Meilen weht. Wir sind bei solchen Bedingungen mit unseren Hunden den ganzen Tag draußen. Das muss man wollen. Außerdem schläft man an den Renntagen nicht wirklich viel, etwa ein bis zwei Stunden pro Tag. Wenn man Pause macht, muss man ja erst die Hunde versorgen: füttern, massieren, Schlafplatz herrichten. Und das für zwölf bis sechzehn Hunde.

ZEIT ONLINE: Wie kommen eigentlich die Hunde mit der Kälte klar?

Schnülle: Die fühlen sich in der Kälte wohl. Für die Alaskan Huskys liegt die ideale Temperatur bei etwa minus 20 bis 25 Grad. Wenn es kälter wird, laufen die Hunde unter einem Hundemantel, der über ihrem Rücken liegt und sie trocken hält. Während der Rast schlafen sie auf Stroh, das wir auf dem Schlitten mitnehmen.

Ein Iditarod-Team erreicht Koyuk, eines der Zwischenziele.

ZEIT ONLINE: Macht es den Hunden nichts aus, ständig auf kaltem und harten Boden zu laufen?

Schnülle: Die Hunde bekommen sogenannte Bootys an, Hundeschuhe. Bei sechzehn Hunden im Gespann muss man vierundsechzig Hundebootys vor jedem Lauf anziehen und das zwanzig Mal im Rennen und im Training. In einer normalen Trainingssaison brauche ich 3.000 Hundeschuhe, 1.000 während des Rennes. Die Bootys sind wichtig, sie schützen die Pfoten. Ist der Schnee besonders kalt, wird er sehr grobkörnig. Das wäre für die Pfoten unangenehm.

ZEIT ONLINE: Tierschutzorganisationen halten die Hundeschlittenrennen für Tierquälerei.

Schnülle: Wer so etwas sagt, hat vermutlich noch nie ein Hundeschlittenrennen gesehen. Unsere Hunde sind trainierte Hochleistungssportler. Die haben Lust zu laufen. Die sind wirklich außer sich. Sie müssten mal das freudige Bellen vor dem Start hören. Als Musher muss man bremsen, damit die Hunde nicht lospreschen. Aber ganz klar: Auch die Hunde stoßen irgendwann an ihre Grenzen. Da muss ich als Musher aufpassen, dass es nicht über die Grenze hinausgeht.

"Die Temperaturen pendeln zwischen minus 30 Grad bis zu plus 5 Grad."

ZEIT ONLINE: Woran erkennen Sie die Grenze der Hunde?

Schnülle: Wenn die Tiere keine Lust mehr haben. Eigentlich springen sie nach jeder Pause auf und wollen los, wenn ich hinten am Schlitten herumfummele. Wenn sie liegen bleiben weiß ich, dass sie müde sind. Oder das Gespann ist langsam. Normal sind acht bis neun Meilen in der Stunde. Wenn die Hunde nur fünf Meilen laufen, weiß ich, dass etwas nicht stimmt: Die Hunde sind müde. 

ZEIT ONLINE: Gibt es beim Iditarod Tierschutzbeauftragte?

Schnülle: Keine offiziellen. Aber es sind etwa dreißig Tierärzte dort, die einen Hund oder das gesamte Team aus dem Rennen nehmen dürfen. Die Tierärzte achten sehr darauf, dass es den Hunden gut geht. Jedes Tier erhält vor dem Rennen eine EKG-Untersuchung. Außerdem wird ein komplettes Blutbild gemacht. So kann man fast alle Vorerkrankungen ausschließen.

ZEIT ONLINE: Kann man Hunde während des Rennens tauschen?

Schnülle: Das ist nicht erlaubt. Man kann Hunde nur im Checkpunkt zurücklassen, die zurück nach Anchorage geflogen werden. Sechzehn Hunde, wie sie beim Start für ein Gespann üblich sind, sind eigentlich zu viel. Man weiß ja, wie sehr ein Haushund schon an der Leine ziehen kann. Die meisten Gespanne beenden das Rennen mit acht bis zwölf Hunden.

 

ZEIT ONLINE: Auf welche Ausrüstung können Sie am wenigsten verzichten?

Schnülle: Bei uns Menschen: ein guter Schlafsack. Wir schlafen meist unter freiem Himmel bei den Hunden. Vorgeschrieben sind auch ein Kocher und eine Stirnlampe. Für die Hunde muss man mindestens acht Bootys pro Tier dabei haben. Dazu kommen Ersatzklamotten für sich selbst und Ersatzhundedecken. Und natürlich das Hundefutter, unser Benzin. Das muss ausgewogen sein, auch wann man es verabreicht, ist wichtig. Ein Hund verschlingt bei einem solchen Rennen 10.000 Kalorien pro Tag, die meisten davon kommen über Trockenfutter und Fett. Auch Fleisch wird gefüttert, Rind, Hühnchen oder Lamm, das man in warmem Wasser auftaut.

ZEIT ONLINE: Genießt man das Rennen?

Schnülle: Die einzigartige Landschaft ist für mich immer ein großer Reiz gewesen, das Iditarod zu fahren. Dafür hat man einen Blick. Jedes Jahr ist anders, nie sind die Bedingungen gleich. Windstille, Sturm, wenig Schnee, die Temperaturen pendeln zwischen minus 30 Grad bis zu plus 5 Grad. Jedes Wetter hat seine eigene Stimmung. Das Schöne beim Hundeschlittenfahren ist, dass man mit 12 Kilometer pro Stunde unterwegs ist. Die Natur erlebt man da viel intensiver als wenn man mit 80 Kilometern pro Stunde durchrauscht oder gar drüber fliegt.

ZEIT ONLINE: Nehmen Sie uns mit: Was sieht man in Alaska?

Schnülle: Die Sonne geht viel häufiger auf und unter als zu Hause im Alltag. Das erste Licht des Tages ist viel früher wahrnehmbar, als leichter Schimmer am Horizont wenn man in den Tag hineinfährt. Nachts haben die Nordlichter eine ganz besondere Magie. Es gibt Momente, die liegen zehn Jahre zurück, und trotzdem erinnere ich mich an sie: Als ich auf dem Yukon River Richtung Nulato im Nebel fuhr und die Nordlichter so stark tanzten, dass alles ein gespenstisches grünes Licht hatte. Aus der Nebelwand heraus offenbarte sich eines der schönsten Nordlichtbilder, die ich je erlebt habe.

ZEIT ONLINE: Sie haben Ihren Karriereabschluss durch den Unfall verpasst. Wollen Sie es im kommenden Jahr noch einmal versuchen?

Schnülle: Nein, eher nicht. Ich glaube, dass meine Zeit hier im Norden langsam endet. Das mit dem harten Leben in der Kälte ist nicht ganz so einfach. Noch habe ich alle Finger und alle Zehen. Das soll auch so bleiben. Auch müsste ich mein Gespann wieder aufstocken, das möchte ich nicht. Ich habe noch eine zweite Leidenschaft, das Segeln, das wird in der Zukunft mehr in den Vordergrund treten.

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